Kiwis im Akkord

Ich fange an, hier zu schreiben, während ich darauf warte, dass mein Arbeitstag beginnt (auch wenn ich den Eintrag sicherlich wann anders fertigschreiben und einstellen werde). Viel Text – die Bilder kommen weiter unten…


Die Anfangszeiten sind sehr unsicher und spontan, da kommt es öfters zu solchen ‚Leerzeiten‘, die ich eigentlich besser nutzen könnte. Heute immerhin haben sie sich einen Tag herausgesucht, an dem ich wenigstens ein interessantes Spiel währenddessen sehen kann. Die Belgier mühen sich gerade gegen die Italiener, die 21h-Spiele starten hier morgens um 7 zur Frühstückszeit. Danach wird das Spiel davor in voller Länge gezeigt. Wen grad keine EM kommt kommt eben die Copa America…
Tatsächlich habe ich vergangenen Dienstag angefangen zu arbeiten. Sogar noch eine andere Stelle hätte ich am Dienstag haben können. All das bestätigt die Erfahrungen vom Vineyard: am einfachsten kommt man an einen Job über andere, die schon arbeiten, die einem Nummern geben können, die für einen fragen können. All die offiziell ausgeschriebenen Stellen auf diversen Onlineseiten sind eher schwierig zu bekommen.
So. Aufgeregt, in meinen Schaffklamotten, mit reichlich Vesper im Auto habe ich dann also versucht, am Dienstag früh diese Farm zu finden. Ich habe eine Adresse bekommen zusammen mit der Info, nach ‚Hardeep‘ zu fragen. Man muss sich das so vorstellen, dass man einen Feldweg entlang fährt, rechts und links der Straßen stehen Buschbäume als Zäune + Windschutzscheibe, so 5m hoch, und alle hundert Meter ist da eine Lücke für eine Einfahrt. Manchmal steht da dann eine Hausnummer dran, aber da die hier wild springen, sind die nur ein ungefährer Anhaltspunkt, ob man schon an der gesuchten Nummer vorbei ist oder nicht. Ich hab meine Adresse anhand der beiden Busse mit Vanuten gefunden, die da ebenfalls eingebogen sind. Na dann, auf ins Gefecht… Aussteigen, begutachten lassen und dann nach Hardeep fragen. Kennt keiner. Aha. Sauber. Nach einigen Minuten bin ich wieder ins Auto gesessen, das wurde mir dann langsam zu doof, das Starren. Nach weiteren 10min kam plötzlich Bewegung in die Leute, alle stiegen aus, nahmen ihre Säcke und liefen Richtung Kiwis. Hm. Zweiter Versuch, nach Hardeep zu fragen. Immernoch wusste keiner, wer das ist, allerdings kam ich so an Deepa, der zumindest wusste, dass ich auftauchen werde. Hardeep habe ich im übrigen bis heute nicht getroffen…. 😉 jedenfalls hat mir Deepa einen Vertrag zum Unterschreiben unter die Nase gehalten und einen Sack in die Hand gedrückt und mich in die Reihen geschickt. Ok, aber kann mir vielleicht noch jemand sagen, was ich tun soll?! Durch ein bisschen rumfragen wusste ich dann so ungefähr, was ich tun muss und habe begonnen, meinen Sack zu füllen.
Dieser erste Tag war … in einem Wort … furchtbar. Nach einer Stunde war ich schon fertig für den Tag… Waren aber halt noch fast 8 weitere lange, lange Stunden… Alle paar Minuten schallte ein „c’mon gyus! Faster!“ Über das Feld, manchmal mit der persönlichen Anweisung an mich „Pick as fast as you can!“. Blöde Kuh, was glaubst du, was ich mache?! Leider war ich schon zu erschöpft für eine passende Antwort und habe nur geschwiegen dazu. Die letzte Stunde habe ich meine ganze restliche Kraft dazu verwendet, nicht schon auf dem Feld anzufangen zu heulen. Zumindest bis ins Auto habe ich es geschafft… 😕 Um viertel nach 5 war dann mit Ende des Tageslicht auch Schichtende. Gottseidank! Ich war selten so erleichtert bei Feierabend. Am Ende standen zwischen 11 und 12 ‚Bins‘ (ich gehe nachher genauer darauf ein) bei mir auf dem Zettel. Macht wohl ca. 160$. Ich bin irgendwie nach Hause gefahren, hab mich kurz abgeduscht und vor 7, ohne Abendessen oder sonstwas, schlafen gelegt. Mitten in der Nacht aufgewacht und aus dem Spiegel haben mich zwei entzündete, vereiterte Augen angeschaut. Die Bindehautentzündung gabs gratis dazu, bei dem ganzen Kiwihärchenstaub in der Luft… Nach 11h Schlaf (und Einsatz meiner guten Augentropfen) war ich wieder einigermaßen in der Lage, mich zu bewegen. Nachdem ich dann auf 8 wieder zu der Farm gefahren bin, wurden wir nach einigem hin & her gegen Dreiviertel 9 wieder heimgeschickt- zu nass. Keine Arbeit bis Samstag. So hatte ich drei Tage Zeit, mich von den Strapazen des ersten Tags zu erholen, mir Überlebensstrategien zu überlegen und mich vor dem nächsten Arbeitstag zu fürchten.
Die freien, teils verregneten Tage habe ich mir mit rumgammeln, im Internet surfen (ich weiß jetzt Bescheid, wie wir unseren neuen Gasgrill ganz hervorragend einsetzen können), einem Besuch beim Friseur, Besuch von ein paar Läden in Tauranga (nächstgelegene, größere Stadt) Brot backen und Pizzateig auf Vorrat vorbereiten, in der Bibliothek Bilder zu sichern usw. vertrieben. Bei letzterem habe ich mir auch gleich den ersten neuseeländischen Strafzettel eingehandelt, für zu langes Parken in der 60min-Zone…
Am Samstag ging es dann weiter, wegen dem Wetter nur einen halben Tag, was für mich ganz gut war, so eingewöhnungstechnisch. Heute jetzt wird mein fünfter Arbeitstag sein. Und es ist unglaublich, dass sich der Körper so schnell an die ungewohnte Arbeit gewöhnt. Ich stelle mir die kleinen Männchen auf den roten Blutkörperchen vor, in heller Aufregung, „Alarm, Alarm! Extreme Beanspruchung! Alle Reserven mobilisieren! Bauchfett, wieviel Energie können sie den Nackenmuskeln zur Verfügung stellen?“… Inzwischen bin ich nach einem 8-9h Tag immernoch ko, aber es geht. Ich bin inzwischen etwa so schnell wie die Langsamen in meiner Gruppe. Und kann auch wieder die Freude an so einer Art Arbeit spüren.

Jetzt, einen Tag später als zu Beginn dieses Eintrags sitze ich in der Sonne auf meinem Trampolin-Lieblingsplatz und habe deshalb Zeit, weiterzuschreiben, weil ich mir heute einen Tag ‚off‘ gegönnt habe: gestern ist mir wohl was Größeres ins Auge und nachdem ich drei Stunden weiter versucht habe zu arbeiten („wird schon wieder besser werden“) und ein paar Mal die Augendusche auf der Farm benutzt habe, bin ich abends mit einem zugeschwollenen Auge zum Arzt gegangen. Die hat lustige Sachen mit mir gemacht (zB Augentropfen gegeben, die im Schwarzlicht leuchten) und einen Kratzer auf einer Augenhaut (Netzhaut? Bindehaut?) diagnostiziert. Mit Piratenklappe und Antibiotika-Augensalbe ist es heute schon viel besser, aber da ich ein Mädchen bin, hab ich trotzdem auf arbeiten heute verzichtet. Nun ist mir langweilig, weil ich einäugig schlecht länger lesen kann und bei Hörbüchern einschlafe und ihr bekommt es zu lesen. 😉 Morgen ist es hoffentlich wieder so weit gut, dass es weitergehen kann.

Meine Gruppe besteht nur aus Dauerarbeitern, keine anderen Backpacker mehr. Die einzige andere Frau macht den Job seit 12 Jahren. Sie ist ein Jahr jünger als ich, obwohl ich sie locker auf 40 geschätzt hätte. Kein einfaches Leben.
In dieser Gruppe bleibe ich hoffentlich auch, ich mag nicht ständig neu mich beweisen müssen: es geht doch immer ein paar Tage, bis die anderen einen halbwegs als Mitglied des Teams akzeptieren. In meinem Fall sind das hauptsächlich Maori, was mir nochmal einen komplett neuen Blick auf Neuseeland gibt. Unglaublich, wie viel anders sich eine andere (gesellschaftliche) Gruppe verhält, wie anders der Umgang ist. Spannend. So hören wir nicht wie mit den Vanuten Reggae, sondern harten HipHop und in keinem Satz darf das ‚bro‘ am Ende fehlen. Vor kurzem musste ich hastig mein Taschentuch herauskamen und mein Lachen im Nasenputzen verstecken, als der eine sagte „yeah man, we are one family my brother, you know what I mean, bro?!“. Hallo Klischee!!!

Und nun möchte ich euch die Details und meine statistisch erhobenen Daten zur Härte der Kiwifruchternte nicht vorenthalten. 😄
Die Kiwifrucht ist eine Art Kletterpflanze. Die Äste werden, ausgehend von den Stämmen, über ein aus Drähten aufgespanntes Netz auf ca. 1,75m über dem Boden gezogen. Man steht also quasi unter einer Kiwilaube. imageDa versteht man auch gleich die Mindest- und Maximalgrößen, die für die Arbeiter oft angegeben werden. Ich liege mit meinen knapp 1,70m ziemlich gut in der Mitte. Die Früchte selbst hängen dann von den Ästen an kleinen Stielen herunter. Die niedrigsten hängen ca. auf Augenhöhe (bei mir), für die höchsten muss ich mich auf Zehenspitzen lang machen – der Großteil ist ca. 10cm über mir. Die Arbeitshöhe der Hände ist also über dem Kopf. imageBeidhändig versucht man, die Kiwifrüchte durch leichtes Anheben und eine gleichzeitige Knickbewegung von ihren Stängeln zu lösen (die bleiben idealerweise am Baum, sonst gibt’s Geld abgezogen), je mehr gleichzeitig, desto besser. Dann legt man die Früchte in einem Korbsack, bag, bucket oder bushel genannt, den man vor dem Bauch trägt. Er hat Tragegurte wie ein Rucksack falschrum quasi oder wie eine Kindertragetasche. Die Tragegurte kommen dann über die Schlüsselbeine runter (und scheuern die Haut da fleißig auf – Nivea hilft). Nicht unbedingt auf die weibliche Anatomie angepasst. Dieser Sack ist eigentlich ein Schlauch, der oben durch ein Metallring offengehalten wird. Das untere Ende wird mittels Kordeln nach oben geklappt und seitlich an Ösen am Metallring eingehängt.image

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Die Jungs gehören zu meinem Team, rechts seht ihr die bins, die darauf warten, gefüllt zu werden, und im Hintergrund so ein Baumzaun

Wenn man seinen bag voll hat, läuft man zum kleinen Traktor, der hoffentlich nicht allzuweit weg steht, mit seinen 3-4 bins auf dem Anhänger. Diese bins sind große Kisten aus Plastik oder Holz, die es in unterschiedlichen Größen gibt, so ca. 1,20m im Quadrat Grundfläche und 60 oder vielleicht 80cm hoch. In die bins passen zwischen 16 und 20 bags. Man wuchtet seinen bag da rein und löst die Kordeln, worauf die Kiwifrüchte unten rauspurzeln. Dann nochmal grob auf Stöckchen und Blätter geprüft, Kordeln wieder eingehängt und weiter geht’s. Meine Internetrecherche hat ergeben, dass eine einzelne Kiwifrucht zwischen 60 und 160 Gramm wiegt, im Mittel 90gr. Mein fleißiges Mitzählen hat ergeben, dass in ein bag zwischen 120 und 160 Früchte passen, auch je nach Größe (wobei die ganz kleinen nicht gepflückt werden). Ergibt ein Gewicht je bag von irgendwo zwischen 12 und 15 kg. Ich brauche für ein bag inkl. ausleeren zwischen 2 und 3 Minuten. Die ganz schnellen Pflücker haben ihre Kordeln verlängert, so dann die Säcke größer werden und sie nicht so oft ausleeren müssen (womit kostbare Pflückzeit verloren geht). Heißt, ich pflücke im Schnitt so 24 bags je Stunde, über 300kg. Macht an einem 8h-Tag ca. 2,5 Tonnen Kiwis, die ich pflücke und herumtrage. Bezahlt wird die Gruppe je bin (ca. 15$), quasi im Gruppenakkord. Umgekehrt gibt es je bag also weniger als einen Dollar…
So. Das erklärt, warum ich am ersten Tag so müde war und den Gedanken hatte, nie mehr wieder Kiwis zu essen…
Freie Tage in dem Sinne gibt es übrigens nicht. Gepflückt wird, wenn das Wetter gut ist; wenn es regnet oder die Früchte zu nass sind, hat man frei (sonst faulen die) – oder wenn man sich wie ich einen Tag frei nimmt. Das kann sich aber keiner der richtigen Arbeiter leisten. Einer meiner Kollegen hat gesagt, als es mal anfing zu regnen während der Arbeit und die Frage war, ob wir jetzt aufhören müssen: “ ja, ich kann heimgehen, mein Feuerholz machen. Aber das wird die Rechnungen nicht bezahlen, oder?!“. Nein, bro.
Das Pflückprinzip mit den bags und bins ist bei der Apfelernte übrigens das Gleiche. Da dort die bags aber um die 20kg wiegen, ist diese Ernte als ‚die schlimmste von allen‘ verschrien. Blaubeeren und Kirschen hingegen sollen die einfachsten Erntejobs sein, weil man nicht so viel tragen muss und gutes Geld bekommen soll. Ob’s stimmt, weiß ich nicht, alle diese Ernten liefen während meiner Zeit auf dem Weinberg, ich werde es also nicht ausprobieren und bin deshalb auch nicht gerade böse. Die Kiwiernte werde ich noch so weit mitnehmen, wie es geht, ob ich darüber hinaus beim Winterschnitt weitermache, muss ich mal noch sehen. Auch das läuft ‚on contract‘, dh pro Pflanze bezahlt. Jedenfalls bleibe ich noch eine Weile hier in Maketu (oder MK2, wie der Insider schreibt) und warte freudig auf das Briefchen von Tobias mir aus Versehen mit zurückgenommenen Ersatzschlüsseln – und Puddingpulver! 😁

Nun wisst ihr Bescheid, wenn ihr euch die nächste 9Cent-Kiwi beim Discounter eures Vertrauens kauft: denkt an die armen Schweine, die sie gepflückt haben!

2 Gedanken zu „Kiwis im Akkord

  1. Hi Nicole,
    am vergangenen WE machte ich mit deinen Eltern eine Wanderung quer? oder längs? durch den Kaiserstuhl. Anfangs ziemlich verregnet deshalb auch mit der dementsprechend schlechten Sicht an wirklich schönen Aussichtspunkten. Wir sahen auch ziemlich gut, wo es (auch) gerade regente bzw. sehr dunkel bewölkt war…der ‚running gag‘ des Tages war dann immer wieder…: „unten am Strand scheint die Sonne“ würde Nicole jetzt sagen / schreiben 🙂 🙂
    Schöne Grüße
    Irene

  2. Hey Mädel, ich wusste ja dass du hart arbeiten kannst – tauschen wollte ich nicht mit dir! Heute stand ich im Discounter meines Vertrauens vor den Kiwifruits – hab mich dann aber doch für Äpfel „Neue Ernte aus Neuseeland“! entschieden. Ich glaube die Kiwis pflanze ich demnächst selbst an 😉 ich kenn` ja dann Jemand der mir ganz viel über die Ernte und vielleicht den Schnitt sagen kann (wie`s mir der Befruchtung geht hat uns ja Herr Richter schon vor 25 Jahren gezeigt).
    Als Irene am Sonntag ihren Regenmarsch machte sind wir kurz mal Rad gefahren – immer von den schwarzen Wolken weg und haben`s immerhin noch auf 42 trockene km gebracht. Z.Zt. ist es aber auch wirklich schlimm mit dem Regen – kein Tag ohne kräftige Schauer und kühlen 15 – 18 Grad. Wobei es uns noch wirklich gut geht wenn man ins Elztal oder den Rest von Deutschland schaut – vielerorts ist einfach nur „Land Unter“.
    Hoffe deinem Auge (und der Hand?) geht es wieder besser. Freuen uns wenn wir wieder mal was direkt von dir hören!
    LG Mama und Papa

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